Kinderärztin Dr. Kerstin Porrath aus dem Klinikum Links der Weser kennt solche Situationen leider gut: Ein junges Elternpaar kommt mit seinem Baby in die Ambulanz und erzählt, das Kind sei aus dem Bett gefallen – die Verletzungen sind aber so schwer, dass die Ärzte ein Schütteltrauma vermuten. Nun müssen die Fachleute schwerwiegende Entscheidungen treffen: Muss Anzeige gegen die Eltern erstattet werden? Was ist das Beste für das Kind? „Wenn wir eindeutige Hinweise auf einen Missbrauch oder Gewalt haben, ist klar geregelt, was zu tun ist“, schildert Porrath. „Schwierig sind die unklaren Verdachtsfälle.“ Die Kinderärztinnen und –ärzte im Klinikverbund Gesundheit Nord werden deshalb ab sofort mit einem internetbasierten Fortbildungsprogramm darin geschult, solche Fälle zu erkennen und mit Verdachtsfällen richtig umzugehen.
Hintergrund dieser Maßnahme ist eine Kooperation mehrerer Kinderkliniken aus der Weser-Ems-Region. Sie haben sich zusammen geschlossen, um den medizinischen Kinderschutz zu verbessern und das Fortbildungsprogramm, das von einer niederländischen Stiftung entwickelt worden und in den Niederlanden bereits etabliert ist, auch in Nordwestdeutschland möglichst flächendeckend einzuführen. Das Programm soll nicht nur von Ärzten, sondern auch von Pflegekräften, Sozialarbeitern, Psychologen und anderen am Kinderschutz beteiligten Berufsgruppen genutzt werden. Der Startschuss für das gemeinsame Vorhaben war Mitte April in Oldenburg gefallen – dort waren alle beteiligten Kliniken zu einer Auftaktveranstaltung zusammen gekommen. „So können wir endlich unsere Erfahrungen im medizinischen Kinderschutz an alle interessierten Kolleginnen und Kollegen weitergeben, da durch das E-Learning-Programm jeder die eigenen Zeitressourcen individuell einsetzen kann“, freut sich Jan-Ole Gehrmann, Kinderarzt im Klinikum Bremen-Mitte, der sich wie seine Kollegin Kerstin Porrath schon lange intensiv mit dem Thema Kinderschutz beschäftigt.
Im medizinischen Bereich besteht bei der Betreuung von Kindern mit Verdacht auf Misshandlung, Missbrauch oder Vernachlässigung ein großer Bedarf an Richtlinien für ein einheitliches Vorgehen. Bereits 1992 verfasste die Bundesärztekammer Leitlinien zur Diagnostik von Kindesmisshandlung. In Bremen wurde 2010 die Kinderschutz-gruppe der Bremer Kinderkliniken gegründet. Sie ist an allen vier Krankenhäusern der Gesundheit Nord vertreten und mit Ärztinnen und Ärzten, Pflegekräften, Sozialarbeitern und Psychologen besetzt. Zusätzlich gibt es noch eine erweiterte Kinderschutz-gruppe mit Vertretern aus über 20 Bereichen - u.a. Gesundheit, Jugendhilfe, Polizei, Familiengericht und Beratungsstellen -, die sich regelmäßig trifft.
Langfristig ist der Aufbau einer Kinderschutzambulanz im Eltern-Kind-Zentrum am Klinikum Bremen-Mitte geplant. Diese soll dann Anlaufstelle für die Bereiche Gesundheit, Jugendhilfe, Bildung und Justiz, aber auch für Privatpersonen sein. Bis dahin wird ein Angebot am Klinikum Links der Weser und am Klinikum Bremen-Mitte in der Prof. Hess-Kinderklinik eingerichtet. Bisher gab es jedoch für Ärzte und Pflegepersonal wenig Weiterbildungsangebote zu diesem Thema. Diese Lücke wird mit der internetbasierten Fortbildungsmöglichkeit nun geschlossen.