Gerade erst hatte Dr. Michaela Bütow wieder so ein Erlebnis. Sie unterhielt sich im Zimmer mit einer auffällig gut gekleideten Patientin über deren Leben. Und sie beobachtete, wie in die alte Frau plötzlich eine bisher nicht gekannte Energie zurückkehrte, die die müden Augen plötzlich aufblitzen ließ und ein Lächeln in ihr Gesicht zauberte. Es war der Moment, in dem die hochbetagte Frau aus ihrem Leben erzählte. Wie sie als Modedesignerin durch die Welt reiste, Abenteuer erlebte und das Leben genoss - Erinnerungen an ein vitales, selbstbestimmtes Leben.
„Es ist immer wieder ein besonderer Moment, wenn sich Menschen öffnen können und persönliche Einblicke in ihr Leben geben mögen“, sagt Bütow. Das sei ein Zeichen des Vertrauens. „Und für das gesamte Team finden sich darin wertvolle Aspekte, die uns helfen, genau diesen Menschen zu verstehen und individuell auf ihn eingehen zu können. Mit einem Sportler kann und muss man anders arbeiten als mit einem Künstler“, sagt sie.
Bütow, 58 Jahre, ist Chefärztin der Klinik für Geriatrie und Frührehabilitation im Klinikum Bremen-Nord, und sie liebt ihr Fachgebiet, die Geriatrie, in dem sie seit mehr als 25 Jahren zuhause ist. Im vergangenen Jahr hatte sie die Klinik bereits in einer Doppelspitze mit Dr. Thomas Hilmer geleitet, der weiterhin Chefarzt der Klinik für Geriatrie in Bremen-Ost ist. Seit diesem Jahr trägt sie nun allein die Verantwortung. „Die gemeinsame Zeit mit Dr. Hilmer war für mich sehr wertvoll. Das hat mir den Übergang in die neue Position erleichtert“, sagt Dr. Michaela Bütow. Auf diese Weise hatte sie Zeit, als langjährige leitende Oberärztin in die Rolle der Chefärztin hineinzuwachsen. Ein Schritt, den die Mitarbeiter im Klinikum Bremen-Nord unterstützt haben. „Ich habe gespürt, dass das Team hinter mir steht. Das war ein entscheidender Faktor für mich, diesen Schritt zu gehen“, sagt Bütow. Und das in einer Zeit, die mitten in der Corona-Pandemie gewiss nicht immer einfach war und der Betrieb in der Geriatrie zugunsten der Versorgung von Coronapatienten eingeschränkt werden musste. Nun, wo die Corona-Pandemie aktuell ein nicht mehr ganz so belastender Faktor für das Krankenhaus ist, sollen die Möglichkeiten geriatrischer Betreuung und Versorgung wieder größer werden, und mit wiederkehrenden Besuchsmöglichkeiten deutlich mehr Angehörigenarbeit zum Alltag dazugehören.
Von Berlin über Hamburg zurück nach Bremen
Die Klinik für Geriatrie und Rehabilitation in Bremen-Nord war vor 26 Jahren die erste ihrer Art in Bremen. Zum ersten Mal gab es damals eine solche Spezialklinik, in der man sich auf die besonderen Bedürfnisse älterer Patienten, die unter mehreren Krankheiten oder Beschwerden und an den damit verbundenen Funktionsstörungen gleichzeitig leiden, fokussiert hatte. Dr. Michaela Bütow kam ein Jahr später als Assistenzärztin dazu. Sie hatte zuvor in Berlin studiert, eine spannende Zeit in einer damals in den 1980-er Jahren noch geteilten Stadt. Über Hamburg ging es danach wieder zurück nach Bremen, wo sie ihre Weiterbildung zur Internistin und Geriaterin absolvierte. Heute lebt sie wieder in ihrer Heimat in der Nähe von Bremerhaven, ist Mutter von zwei erwachsenen Kindern und findet auf einem Mini-Bauernhof im Garten den Ausgleich zu ihrem Beruf im Klinikum Bremen-Nord.
„In der Geriatrie werden viele medizinische Bereiche miteinander verbunden – die meisten Patienten werden uns von der Chirurgie, Neurologie und der Inneren Medizin zugewiesen“, sagt Bütow. Hinzu komme die enge Zusammenarbeit des ärztlichen, pflegerischen und therapeutischen Teams. „Wer hier arbeitet, bekommt einen Blick auf viele Facetten der Medizin. Unabdingbar dafür ist eine gute interdisziplinäre Zusammenarbeit“, sagt sie. Und immer wieder sei es eine besondere Freude und eine Bestätigung für die Arbeit in der geriatrischen Abteilung, wenn man die Fortschritte der Patientinnen und Patienten erlebe. Wenn sie sich zum Beispiel nach einem Unfall oder einem Schlaganfall erholen, Fähigkeiten zurückerlangen und mit Hilfe der Klinik wieder in ein möglichst eigenständiges Leben zurückfinden. Gerade diese Erfahrungen seien für das Team die größte Motivation. Besonderen Wert legt Bütow dabei auf den Teamgedanken. „Es kommt auf jeden Einzelnen an, wie eine Klinik funktioniert. Ein freundliches, respektvolles Miteinander ist die Grundlage, auf der alles andere aufbaut.
Dazu gehört selbstverständlich auch der wertschätzende Umgang mit Patienten und Angehörigen, "auf die es als Hauptakteure des Teams wesentlich ankommt“, sagt Bütow. Den Teamgeist in ihrer Klinik möchte sie weiter stärken, eine „Kultur des Positiven“ fördern. Denn gerade in der anstrengenden Corona-Zeit, in der es nur eingeschränkte oder gar keine Besuchsmöglichkeiten gibt, komme den Stationsteams eine besondere Rolle zu. Sie sind für viele Tage, manchmal Wochen, die einzigen direkten Bezugspersonen. Umso mehr ist Empathie gefragt, ein mitfühlendes Gespräch, Interesse füreinander, der Aufbau einer persönlichen Verbindung zwischen Patienten und Mitarbeitern. „Wenn man die Hintergründe kennt, erleichtert das besonders die Arbeit in schwierigen Situationen“, sagt Bütow. Man nehme das Verhalten des Menschen nicht mehr persönlich, sondern könne es in dessen ganz eigenen Kontext stellen und entsprechend darauf eingehen.
Respekt vor der Lebensleistung stärken
Eine persönliche Verbindung schaffe eben Vertrauen, fördere die Mitarbeit der Patienten und Angehörigen und trage entscheidend zum Genesungsprozess bei. „Für mich ist der Respekt vor dem Alter, vor der Lebensleistung eines Menschen etwas, das in unserer Gesellschaft oft zu kurz kommt“, so Bütow. In ihrer Klinik ist er zentraler Bestandteil. Die Geriatrie sei eben auch ein Ort, wo verschiedene Generationen aufeinandertreffen und voneinander lernen.
„In jedem alten Menschen gibt es noch den jungen Mann, die junge Frau. Wir erkennen sie an ihren Erinnerungen an ein aktives, selbstbestimmtes Leben, an ihren Interessen, an Berichten über schöne oder schlimme Erlebnisse“, sagt Bütow. Jüngere Menschen vergäben sich die Chance, aus diesen Erfahrungen zu lernen, wenn sie nicht den Menschen zuhörten, die dieses Leben schon gelebt haben. Ein Beispiel: Wie gehe ich damit um, wenn mein Leben irgendwann kleiner und enger wird, ich meine Autonomie verliere und auf Hilfe angewiesen bin? Wenn ich mich allmählich oder sogar ganz plötzlich von vielem verabschieden muss, was mir bisher wichtig war?
Es gebe indianische Völker, die ihre Jahre nicht zählten, die nicht alt, sondern weise würden. „Ein schöner Gedanke, der ein ganz anderes Licht auf diese Phase des menschlichen Lebens wirft, in dem alte Menschen nicht nutzlos, sondern ein wichtiger, unverzichtbarer Bestandteil einer Gesellschaft sind“, sagt Bütow.
Ihren Patientinnen und Patienten möchte sie künftig die Möglichkeit geben, dass sie ein Foto von sich aus jungen Jahren im Patientenzimmer aufstellen können. Ein Bild als Anhaltspunkt, der etwas darüber verrät, dass der Mensch, der nun auf Hilfe hoffend im Krankenbett liegt, eine eigene, spannende Geschichte zu erzählen hat. So wie die inzwischen nach Hause zurückgekehrte alte Dame, die mal als Modedesignerin durch die Welt reiste.
Geriatrie im Überblick
Die Geriatrie-Klinik war die erste ihrer Art in Bremen. Ein Jahr nach der Gründung im Jahr 1995 stieß Dr. Michaela Bütow 1996 als Assistenzärztin dazu. In der Geriatrie ist die Versorgung auf ältere Menschen zugeschnitten. Die Klinik verfolgt das Ziel, dass Patienten nach einer akuten Erkrankung möglichst schnell wieder in den Alltag zurückfinden. Begleiterkrankungen wie zum Beispiel Diabetes, chronische Schmerzen und Demenz, sowie alterstypische Veränderungen wie Verminderung des Hör- und Sehvermögens, des Gleichgewichtssinns und der Beweglichkeit, die zu einer Haupterkrankung wie einem Unfall oder einer neurologischen Erkrankung oft noch hinzukommen (hier spricht man von Multimorbidität), erschweren oft die Rückkehr ins gewohnte Umfeld. In der Klinik für Geriatrie und Frührehabili-tation in Bremen-Nord sind die Voraussetzungen für eine optimale Behandlung von der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie als besonders gut bewertet und 2021 erfolgreich rezertifiziert worden.