Zum ersten Mal ist am Klinikum Bremen-Mitte in einer komplizierten Operation ein komplettes Ohr rekonstruiert worden. Bei einem sechsjährigen Patienten, der mit einer schweren Ohrfehlbildung zur Welt gekommen war, rekonstruierten Ärzte mit Hilfe eines Polyethylen-Implantates eine neue Ohrmuschel mitsamt Ohrläppchen. Diese Art von komplettem Neuaufbau eines Ohres war in Bremen bisher nicht möglich. Der neue Chefarzt der Hals-Nasen-Ohrenklinik, PD Dr. Andreas Naumann, gehört bundesweit zu den wenigen Spezialisten, die diese OP-Methode beherrschen. Er brachte sein Können vom Universitätsklinikum München mit - dem einzigen Klinikum in Deutschland, das neben Bremen solche Ohrrekonstruktionen anbietet.
Kenneth hatte seit seiner Geburt unter der hochgradigen Fehlbildung seines rechten Ohres gelitten: Durch die fehlgebildete Ohrmuschel konnte das Ohr Schallwellen nicht richtig aufnehmen. Der Gehörgang war eingeengt, so dass er deutlich schlechter hören konnte. Zu den körperlichen kamen die psychischen Belastungen: Das verkümmerte Ohr wurde ständig angestarrt. "Nach der herkömmlichen Methode hätte man Kenneth in mehreren Schritten eine Ohrmuschel aus Rippenknorpel rekonstruiert", erläutert der Chefarzt. "Das erfordert allerdings mehrere Operationen und ist in der Regel erst ab dem achten Lebensjahr möglich. Zudem besteht dabei immer die Gefahr, dass der Knorpel sich noch verbiegt oder nach der Operation schrumpft." Der HNO-Spezialist wendet daher seit einigen Jahren eine Methode an, bei der ein filigranes Gerüst aus Polyethylen, das Grundgerüst des neuen Ohres bildet. Dafür wird direkt über dem neuen Ohr ein Muskelhautlappen, der sich unter der Kopfhaut befindet, freigelegt und nach unten geklappt. "Dieser Lappen ist für die Kopfhaut entbehrlich. Er enthält aber zahlreiche Gefäße, so dass er eine gute Grundlage für das Anwachsen von freien Hauttransplantaten ist", sagt Naumann. Während der Operation wird dieser Muskelhautlappen locker über das Polyethylen-Implantat gelegt und befestigt, so dass er das Gerüst komplett umhüllt. Freie Hautstücke aus der Leiste und/oder von der anderen Kopfseite werden dann auf diesen Lappen transplantiert und dienen zur Abdeckung der neuen Ohrmuschel. Für Laien schwer vorstellbar - aber der Körper kann mit diesen Verpflanzungen gut umgehen: "Die Zellen wachsen in das poröse Material des Implantates ein. Die transplantierte Haut zieht sich nach der Operation automatisch in das neugebildete Ohrrelief hinein, so dass das Ohr nach wenigen Wochen aussieht wie ein "natürliches Ohr." Da die Narben der Hauttransplantationen an versteckten Stellen liegen, bleibt der Eingriff für Außenstehende nach entsprechender Abheilungsphase kaum sichtbar. "Das Polyethylen-Implantat ist sehr formstabil und gut verträglich", verspricht Naumann. Sollte das Implantat beispielsweise bei einem Unfall zerbrechen, könne es aber problemlos bei einem kleineren Eingriff ausgetauscht werden. Ein weiterer Vorteil gegenüber der herkömmlichen Methode: Sie ist für den Patienten deutlich schonender. Rund viereinhalb Stunden dauert die Operation, es ist nur ein einziger Eingriff notwendig. Die Operation kann bereits bei Kindern ab fünf Jahren durchgeführt werden. In der Regel ist die Schwellung bereits nach ca. 6 Wochen so weit abgeklungen, dass das neue Ohr gut erkennbar ist. Bei Kenneth ging es sogar noch schneller: "Der Heilungsprozess ist erstaunlich gut verlaufen", freut sich Naumann. Der Sechsjährige kommt noch regelmäßig zur Kontrolle, hat ansonsten aber keinerlei Einschränkungen mehr. "Schmerzen sind bei dieser Methode ohnehin kein Thema, denn in dem Hautlappen und den verpflanzen Hautstücken hat man kaum Schmerzempfinden", so Naumann, der den komplizierten Eingriff bereits mehr als 70 Mal durchgeführt hat. Auch in Bremen sind bereits weitere Patienten in Behandlung, die ein neues Ohr bekommen sollen. Naumann, der dem Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Plastische, Ästhetische und Rekonstruktive Kopf-Hals-Chirurgie sowie dem Präsidium der Deutschen Gesellschaft für Plastische und Wiederherstellungschirurgie angehört, ist damit einer von wenigen Spezialisten in Deutschland, die diese Methode beherrschen. Neben diesen seltenen kompletten Ohrrekonstruktionen behandelt seine Klinik aber auch geringe Ohrfehlbildungen - wie beispielsweise abstehende Ohren - oder andere komplexe Krankheitsbilder im Kopf-Hals-Bereich, die einen plastischen oder rekonstruktiven Eingriff erfordern. "Früher musste man mit vielen angeborenen Fehlbildungen oder durch einen Unfall verursachten Gewebedefekten leben", macht Naumann allen Betroffenen Mut. "Heute können wir erstaunlich viel behandeln."
Achtung Redaktionen: Für weitere Informationen steht PD Dr. Andreas Naumann unter der Telefonnummer 497-3557 zu Verfügung.