Seltene Erkrankungen gibt es ganz schön häufig. Mehr als 8.000 sind der Medizin heute bekannt. Doch wenn bestimmte Erkrankungen nur selten vorkommen, können Ärztinnen und Ärzte auch kaum ausreichend Erfahrungswerte sammeln. Für Patientinnen und Patienten kommen zu der gesundheitlichen Belastung dann meist noch weitere Stressfaktoren hinzu. Wo sind sie überhaupt am besten aufgehoben? „Sie laufen oft jahrelang von Arzt zu Arzt. Zwischendurch gibt es viele Fehldiagnosen. Und ist die Krankheit einmal erkannt, stehen Betroffene eben wegen der Seltenheit doch erst einmal alleine da“, sagt Dr. Eberhard Schmiedeke, Oberarzt im Eltern-Kind-Zentrum Prof. Hess des Klinikums Bremen-Mitte. Um die Kompetenz zu bündeln, gibt es Europäische Referenznetzwerke (ERN) für seltene Erkrankungen. In einem vom Ihnen ist auch das Eltern-Kind-Zentrum Prof. Hess des Klinikums Bremen-Mitte vertreten.
In der Klinik für Kinderchirurgie und Kinderurologie, die von Chefarzt Prof. Dr. Christian Lorenz geleitet wird, ist man auf seltene uro-recto-genitale Fehlbildungen spezialisiert – also Erkrankungen, die Blase, Enddarm, After und Geschlechtsorgane betreffen. Wenn bei einem Baby oder Kind eine angeborene anorektale Fehlbildung besteht, die häufig die Urogenitalorgane mitbetrifft, so bietet diese Klinik neben drei anderen deutschen Unikliniken ausreichend Erfahrung und zusätzliche internationale Vernetzung, um diese Fehlbildung so weit wie möglich chirurgisch zu korrigieren und die Patientinnen und Patienten im multidisziplinären Team lebenslang weiter zu betreuen.
Pro Jahr behandelt die Klinik aktuell etwa 75 Kinder mit diesen seltenen Fehlbildungen, davon sind etwa 25 neue Patientinnen und Patienten, von denen die meisten mindestens eine rekonstruktive Operation benötigen. Die Bremer Klinik steht wie alle ERN-Kliniken EU-weit den Betroffenen zur Verfügung; Ziel ist allerdings, dass „die Expertise reist und nicht der Patient“, sagt Oberarzt Schmiedeke. Der Austausch über seltene Fälle läuft – falls erforderlich ERN-übergreifend – meist über Videokonferenzen, in denen Fälle vorgestellt werden und besprochen wird, wie man weiter vorgehen sollte. Die seltene Erfahrung wird so gebündelt und geteilt – und es wird nach einem Weg gesucht, wie der oder die Betroffene von einem der Netzwerkpartner optimal versorgt werden kann.
Wichtige Arbeit der Selbsthilfeorganisationen
Da die Netzwerke auch sieben Jahre nach ihrer Gründung vielen Menschen noch recht unbekannt sind, kommt es neben der ärztlichen Initiative aber auch „vor allem auf das wertvolle und unersetzliche Engagement von vielen Patienten- und Selbsthilfeorganisationen an“, betont Schmiedeke. Vereine wie SoMA (www.soma-ev.de), die zum Beispiel als Anlaufstelle und Ratgeber für Patientinnen und Patienten mit anorektalen Fehlbildungen und Morbus Hirschsprung da sind, haben einen umfassenden Überblick darüber, wo Menschen mit bestimmten Krankheiten am besten aufgehoben sind.
„Diesen Vereinen und Organisationen, die von Betroffenen oder ihren Eltern ins Leben gerufen wurden, ist es überhaupt auch erst zu verdanken, dass es sinnvolle Hilfen aus der Patientenperspektive gibt und die Europäischen Netzwerke auf den Weg gebracht wurden“, sagt Schmiedeke. Sie hätten auch oft den besten Überblick, wenn Expertinnen und Experten für bestimmte seltene Erkrankungen über die Jahre mal den Arbeitsplatz gewechselt hätten – und Betroffene der Expertise so dann folgen könnten. „Denn häufig liegt die Expertise ja bei einigen wenigen Personen“, sagt Schmiedeke. Deshalb sei es umso wichtiger, dass die Expertinnen und Experten ihr Wissen auch an ihre Kolleginnen und Kollegen weitergeben, damit nach ihrem Weggang der Gesundheitsdienstleister nicht als leere Hülle übrig bleibt.
Europäische Referenznetzwerke
Insgesamt gibt es 24 Europäischen Referenznetzwerke, jedes Organsystem ist darin berücksichtigt. Es soll Patientinnen und Patienten einen besseren Überblick geben, wo sie zur Behandlung einer seltenen Erkrankung besonders gut aufgehoben sind. Hat eine Klinik durch ausreichend hohe Patientenzahlen einen besonders großen Erfahrungsschatz mit einer seltenen Erkrankung gesammelt, kann sie sich als Gesundheitsdienstleister für das betreffende Europäische Referenznetzwerk bewerben. In Bremen hat diesen Status bereits seit 2017 die Klinik für Kinderchirurgie und Kinderurologie am Klinikum Bremen-Mitte.
Zebras und Kolibris
Seltene Erkrankungen nennt man in der Medizin „Kolibris“ oder auch „Zebras“. Aber warum eigentlich? Das bezieht sich auf den Merksatz, dass sich hinter eindeutigen Symptomen auch die dazu passende Erkrankung verbirgt. Wenn man im übertragenen Sinne also einen Vogel auf der Stromleitung sitzen sieht, ist es meistens ein Spatz, aber nur selten ein Kolibri. Hört man draußen Hufe klackern, ist es in der Regel ein Pferd, und man wäre eher überrascht, ein Zebra zu erblicken. Die Kunst in der Medizin besteht also darin, sich darauf zu konzentrieren, was am wahrscheinlichsten ist – aber doch nicht ganz aus dem Blick zu verlieren, dass es sich in seltenen Fällen auch um einen Kolibri oder ein Zebra handeln könnte.
Angebot an Redaktionen: Wenn Sie für einen Beitrag oder ein Interview einen Ansprechpartner zum Thema „Seltene Erkrankungen“ benötigen, organisieren wir gerne einen Kontakt. Neben Kinderarzt Dr. Eberhard Schmiedeke stehen Ihnen auch Prof. Dr. Johann Ockenga (Innere Medizin) und Dr. Matthias von Mering (Neurologie) für den Bereich Erwachsenenmedizin zur Verfügung.